Dienstag, 22. September 2015

Jog-a-thon

Ein hervorstechendes Merkmal amerikanischer Schulen (/Sportclubs/Tanzvereinen/Choeren/Schwimmteams/...) ist das unermuedliche fundraising. Es gibt keine vollstaendige deutsche Uebersetzung, ein Onlinewoerterbuch bot mir aber "Geldbeschaffung" an, was eine sehr treffende Beschreibung ist. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Geld, und nicht in der Beschaffung. Demnach skurril sind auch die Methoden: vom Tuer-zu-Tuer-Verkauf von einzeln eingewickelten Bonbons, Plaetzchen oder Duftkerzen ueber Feste mit ueberteuerten Spielen ("Angel den Papierfisch fuer nur $10!") bis hin zum eigens organisiertem Fundraising-Dinner-Abend ist alles dabei.
Meine Lieblingsmethode bisher war die einer Mutter, die ihr Kind gegen Geldspenden beim Singen eines Liedes oder Gedichtaufsagen gefilmt hat und die Datei dann an die Spender geschickt hat.

Nun war auch fuer Paul der Ernst des amerikanischen Schullebens angebrochen.
Die PTA (Parent Teacher Association - Eltern-Lehrer-Vereinigung) hatte als Auftakt einen Jog-a-thon geplant. Hierbei kann der Spass der Geldbeschaffung mit anderen Spaessen, wie zB Schwitzen, Schubsen und Hinfallen, verbunden werden. Indem 25 Kinder in einer winzigen Turnhalle in rutschigen Schuhen 45 Minuten lang Runden rennen, und grosszuegige Spender die Kinder pro Runde bezahlen, wollte die PTA die groessten Einnahmen des Jahres machen.

Welche Eltern gerne vorbeikommen wuerden und "helfen"? Natuerlich ich. In meiner Vorstellung sass ich bequem neben der Laufstrecke, machte Bilder und rief Paul paedagogische Ermunterungen zu.
Es kam anders.
Jedes helfende Elternteil bekam sogleich eine Menge Kinder zugeteilt. Ich weiss nicht mit Sicherheit, wieviel ich hatte. Sie sahen alle aehnlich aus und rannten sehr schnell. Die Rundenzaehlung wurde dabei nicht den Kindern ueberlassen (wieso? Schummeln resultiert doch in mehr Geldbeschaffung?), sondern den Helfern. Alle Kinder hatten ein winziges Papierband um ihre winzigen Handgelenke gewickelt, auf dem wir die einzelnen Runden vermerken sollten.

Zu diesem Zwecke war eine grosse Auswahl an dicken Permanentmarkern vorhanden. Von der aufsehenden Lehrerin gab es den Tipp, sich Muehe zu geben, kleine Striche zu malen, denn die Armbaender sind sehr klein und die Stiftspitzen sehr gross und die Kinder sehr fix. Danke.

Schon kam der Anpfiff und es ging los. Viel zu viele Kinder rannten in einer viel zu kleinen Turnhalle viel zu schnelle Runden. Nach weniger als 20 Sekunden war die gesamte mir zugeteilte Horde da und draengelte sich um mich, um einen Strich auf ihr Armband zu bekommen. Von hinten kamen mehr Kinder angerannt. Eines von meinen wurde nach vorne geschubst und mein Permanentmarker markierte den Kinderarm vom Handgelenk bis zum Ellebogen permanent rot. Hoppla.

Egal wie schnell ich strichelte, es stand immer mindestens ein Kind an. Manchmal auch 5. Sie starrten mich aus identischen roten Gesichtern mit skeptischen kleinen Augen an, die Frau, die nie schnell genug Runden abhaken kann und stattdessen Arme anmalte. Nach 10 Runden verkuendete Paul, dass er Seitenstechen habe. Klasse, ein Kind weniger zum Runden zaehlen. Ich schickte ihn zum Rand der Turnhalle und redete ihm gut zu, dass er sich lieber eine wirklich lange Zeit ausruhen sollte und eigentlich auch gar nicht mehr zurueck kommen muss zum Rennen.

Nach etwa 40 Runden waren die Armbaender voll und die Kindern rannten noch immer. Nun fing ich an, Winzstriche ueber und unter meiner eigentlichen Strichreihe zu machen. Nicht immer fand ich dabei sofort die als letztes angefangene Strichgruppe, und so fuellten sich die Armbaender mit Zweier- und Dreierstrichgruppen. Mist, das sollten eigentlich Fuenfergruppen sein. Wann immer ich eine vergessene Strichkleingruppe fand, fuellte ich sie grosszuegig zur Fuenfergruppe auf. Sollten die Spender doch ein paar Runden mehr bezahlen.

Die Turnhallenuhr, auf die ich verzweifelt schaute, bewegte sich nicht. Ich fuehlte mich zurueckversetzt in meine eigenen Schulsportstunden. Endlose Zeiten, gefuellt mit sportlichen Aufgaben, die theoretisch laecherlich simpel erschienen ("Spring einfach ueber diese Stange"), aber deren praktische Umsetzung nicht mit meinem Koerper kompatibel war ("Diese Stange ist 1,20m hoch").

Mehr und mehr Kinder wurden erschoepft und setzten sich neben mich hin. Waehrend die Lehrer ohne jede Empathie fuer Helfer und Kinder zum Weiterlaufen aufforderten, ermunterte ich meine Horde, es langsam angehen zu lassen: "Wow, sooo viele Striche hast du schon? Toll. Du hast dir eine Pause verdient. Bis die Glocke laeutet."

Noch 2 Minuten, verkuendete Pauls Lehrerin. Alle Kinder sprangen auf und rannten los. Die 2 Minuten waren endlos. Die Uhr bewegte sich noch immer nicht. Genau genommen hatte sie sich seit 60 Runden nicht mehr bewegt. In diesem Moment fiel mir auf, dass sie tatsaechlich still stand. Seit einer dreiviertel Stunde starrte ich verzweifelt auf eine stehende Uhr.

Selbst mit dieser neuen Erkenntnis waren die letzten 2 Minuten eher 10. Schliesslich, endlich, gab es den Schlusspfiff. Eine grosse Kuehlbox wurde in die Mitte der Halle gerollt, und alle Kinder bekamen ein Eis daraus. Genau, alle Kinder. Kein Eis fuer mich. Kein Wasser fuer mich. Nichtmal den Permanentmarker durften wir Helfer mitnehmen.

Gestern war die Deadline fuer das Abgeben der Spenden. Ich habe sie verpasst. Paul hat null Geld fuer den Jog-a-thon abgeliefert. Meine Gefuehle dazu schwanken zwischen enthusiastisch ueber diese Rebellion und peinlich berueht hoffend, dass dies niemandem auffaellt.
Aber der naechste Fundraiser kommt bald, zusammen mit der Anfrage nach helfenden Elternteilen. Wir werden dabei sein.

Liebe Gruesse!


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen