Sonntag, 9. Februar 2014

Anders ist es anderswo

Dieser Blogeintrag hat sich so langsam in meinem Kopf geformt, waehrend unser Deutschlandurlaub naeher rueckt. Was ich wohl drauf antworten wuerde, wenn du bekannten Fragen kaemen "Was ist denn nun anders? Wie ist es anders? Was ist besser, was ist schlechter?" (Vielleicht haben wir diese Fragen in den letzten 1,5 Jahren auch erschoepfend beantwortet, dann koennt ihr den Tab mit unserem Blog wieder schliessen und andere interessante Dinge im Internet lesen gehen).

Was ist anders?
Natuerlich ist es heiss und sonnig, alle moegen Chilli und feiern ihren Nationalfeiertag wie Weihnachten.
Aber auf einer tieferen, allgemeineren Ebene?
Nachdem ich lange darueber nachgedacht habe, wie man die Antwort auf diese Frage kurz und buendig formulieren kann (Mathestudentenangewohnheit), glaube ich, eine Moeglichkeit gefunden zu haben:
Es gibt keinen strengen, anstrebenswerten Verhaltensmittelwert.

In Deutschland ist dieser Verhaltensmittelwert sehr deutlich umrissen.
Es gibt nicht viel Interpretationsspielraum von "Wir treffen uns um 16 Uhr".
Es gibt nicht nur gleichwertige Varianten, seinen Garten zu pflegen (eine wuchernde Wiese ist weniger anstrebenswert als ein englischer Rasen).
Den meisten Menschen ist Vegetarismus und Veganismus aeusserst suspekt.

Die vielen hunderten Regeln, nach denen wir in Deutschland taeglich lebten, fielen mir erst auf, nachdem es sie hier nicht gab.
Es gibt keinen Rasenprototyp.
Zu spaet kommen ist ok.
Kein Fleisch essen gehoert noch zu den weniger ausgefallenen Ernaehrungsgewohnheiten.

Das Wegfallen dieser Verhaltensmassstaebe fand ich zuerst sehr befreiend. In unserem Wohnblock in Deutschland gab es eine alte Dame, die uns tadelte, wenn wir unseren Briefkasten nicht taeglich leerten.
Unsere Nachbarn hier koennten sich nicht weniger um unseren Briefkasten scheren. Oder um den Teppich, den ich gewaschen habe und der dann 2 Wochen lang im Vorgarten aufgebahrt war, weil es so lange dauerte, bis er durchgetrocknet war. Oder um unsere dreckigen Autos, oder um laute Musik, oder die vielen Haustiere, meinen Hundesportparcour im Garten, die ausgerissenen Huehner, die in ihrer Einfahrt sassen. Oder darum, dass die Nachbarn gegenueber ein halbes Jahr brauchten, um einen riesigen Busch in ihrem Garten zu entfernen, dessen abgeschnittene, aber nicht abtransportierte Aeste dann ein gutes Drittel unserer Strasse versperrten.
Es ist einfach EGAL.

Juchu, dachte ich, das passte zu meinem jungen, dynamischen Weltbild. Niemand kuemmert sich, alle lassen mich in Ruhe machen, und ob andere Regeln befolgen, ist gleichermassen nicht mein Problem.

Nach dem ersten halben Jahr hatte ich dann einen ziemlichen Einbruch. Meine Mama war zu der Zeit gerade da (Oktober 2012) und troestete mich damit, dass es in Australien genauso gewesen sei: zuerst himmelhoch jauchzend, dann zu Tode betruebt, und am Ende hat man eine optimistische und reflektierte Meinung.
Warum befolgen die keine Regeln? Es machte mich wahnsinnig. Warum ruft mich eine Freundin nicht an, wenn sie sagt, sie wuerde das machen? Warum verlaesst der Gaertner den halbaufgeraeumten Garten mit den Worten "Ich habe jetzt genug Geld verdient und will nicht mehr arbeiten?" alle doof, alle machten alles falsch, und vor unserem Weihnachtsurlaub 2012 war ich sicher, ich koenne in diesem Land nicht leben. Scheiss auf andere Kulturen, ich wollte zurueck in mein regnerisches Ilmenau mit den Spiessernachbarn.

Aber meine Mama hatte Recht, und seit einem dreiviertel Jahr geht es mir richtig gut mit der Andersartigkeit.

Viele Aspekte sind richtig schoen, zum Beispiel, dass Pauls Schule einfach alle Kinder in einen Kleinbus laedt und eine Erkundungstour macht. Oder dass ich mich nicht zum Affen machen muss beim erfolglosen Versuch, die Huehner im Garten der Nachbarn einzufangen ("Ist schon ok! Die stoeren uns nicht!"). Oder dass ich von allen Seiten richtig viel Zuspruch bekomme, meine genaehten Kleidungsstuecke zu verkaufen oder Hundetrainingsstunden zu geben. Es gibt keinen, der sagt "Nein nein, erst das Studium durchziehen! Lass dich nicht ablenken!" Es ist einfach in Ordnung, verschiedene Sachen nebenbei auszuprobieren. Das ist richtig klasse.

Andere Aspekte waren uns doch so suspekt, dass wir unsere eigenen Wege gefunden haben, sie so deutsch wie moeglich zu gestalten. Unser Gaertner kommt nun jede Woche zur selben Uhrzeit und arbeitet, bis alles fertig ist. Wenn er mehr als 15 Minuten zu spaet kommt, ruft er mich an.
Das erfreut mein deutsches Herz (da ich in Deutschland nie einen Garten hatte, nehme ich an, es liegt in den Genen).

 Und in die dritte Gruppe fallen die, die wir mit einem lachenden Auge betrachten. Vermutlich werde ich nie im Schlafanzug in die Kaufhalle fahren oder Besucher empfangen. Ich werde mich auch nie der gerade sehr beliebten Steinzeitdiaet, die aus viel Fleisch und Getreideverbot besteht, anschliessen.

Es ist nicht besser, es ist nicht schlechter, es ist einfach anders.

Liebe Gruesse!

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