Sonntag, 9. Dezember 2012

Die lieben Nachbarn

So realitätsfern manche Stereotypen des Durchschnittsamerikaners auch sein mögen (doch, sie können kochen; ja, sie machen Sport; nein, nicht alle fahren Jeeps), einige erfüllt er doch.
Darunter: Das ausgiebige Nachbarschaftsleben.

In Ilmenau kannten wir von den 9 anderen Parteien, mit denen wir uns das Haus teilten, ca. die Hälfte mit Namen. Diese hatten wir meist bei eher unfreudigen Ereignissen erfahren (Treppensturz des alten Herren nebenan, Schelte von der Hauswärtin, weil wir den Briefkasten zu selten leerten usw.).
Vor diesem Hintergrund hätten wir uns schon gefreut, wenn es hier weder den Bedarf an Krankenwagen noch Mahnungen bzgl. der Post gibt (die gab es jedoch tatsächlich, und zwar vom Briefträger persönlich, aber das ist eine andere Geschichte) und wir ansonsten in Ruhe gelassen werden.
Da hatten wir aber unsere neighborhood unterschätzt!

Schon vor unserem Einzug, als ich mit Paul an einem Nachmittag im Garten werkelte, kam unser Nachbar vorbei und stellte sich vor. Er fügte hinzu, dass er nun aufhören würde, sein Auto in unserer Einfahrt zu parken, wenn wir den Stellplatz brauchen. Da sie zwei Autos haben, hatten sie bis jetzt eines auf ihrem und eines auf unserem Grundstück geparkt.
(Logisch.)

Einige Zeit später, wir wohnten schon im Haus, sah ich den lieben Nachbarn an unseren Mülltonnen werkeln.
(Was macht man in so einem Moment? Ist das Teil der amerikanischen Nachbarschaftskultur? Ja, denn...)
Seine waren schon voll gewesen, daher hatte er kurz in unseren nachgeschaut, und es war noch Platz. So hat er fix seinen Müll bei uns mit reingesteckt, okay?
(Natürlich.)

Kurz vor den Präsidentschaftswahlen tauchten mit einem Mal viele Wahlschilder in den Gärten auf. Auch wenn wir nicht wählen dürfen, ohne hochkant aus dem Land geschmissen zu werden (in der Hinsicht war Australien deutlich kulanter! Die haben mir sogar eine schriftliche Einladung zur Wahl geschickt), wollten wir gerne ein Statement machen und die kleine blau-rote Flagge mit dem O aufstellen.
Nur, wo herbekommen?

Ich lief zu einem anderen Nachbarhaus, das in seinem Garten eine Demokratenwerbung hatte. Die Bewohner hatten nicht nur ein Schild für mich übrig, sondern luden Paul und mich vor lauter politischer Nachbarschaft-Loyalität gleich noch auf eine Hausführung, Popcorn und Kürbissuppe ein.
(Am Wahltag verschwanden mysteriöser Weise alle Obama-Schilder in der Straße - nun ja, das hat der Gegenseite auch nichts genutzt.)

Sehr, sehr wichtig sind die regelmäßigen Nachbarschaftstreffen.
Vor einiger Zeit fand das jährliche Sicherheitsmeeting statt. Was in anderen Gegenden seine Berechtigung hat, war für unsere eher lächerlich: die einzigen kriminellen Beanstandungen waren eine eingeschlagene Autoscheibe und Raser.
Um den fehlenden Nervenkitzel auszugleichen, war eine Polizeibeamtin zur Beratung gekommen (sie sagte, man lebt schon in einer guten Nachbarschaft, wenn es keine Drogenprobleme gibt) und ein Feuerwehrmann samt Löschauto.
Damit niemand den Spaß verpasste, wurden wir mit freundlichem Nachdruck von Zuhause abgeholt "Oh, hattet ihr nicht mitbekommen, dass das Treffen losgeht? Kommt schnell!" Widerstand zwecklos.
(Gegen die Raser wurde der Beschluss verabschiedet, dass - auf freiwilliger Basis - jeder ein "Slow down Albuquerque"-Schild [in etwa "Mach langsamer, Albuquerque"] in seinen Vorgarten stellt. Das war aber selbst für Hardcore-Nachbarn zuviel des Guten, weshalb die Streberschilder bis jetzt nur in 2 ausgewählten Gärten zu sehen sind.)


Aber wir wären ja nicht die Ausländer, wenn wir nicht wenigstens ab und zu ein Fettnäpfchen mitnehmen. In folgendem Fall war es leider eher ein Fettsee.

Rechts von unserem Haus lebt das vorbildlichste Ehepaar der amerikanischen Vorstadtgeschichte. Er Steuerberater, Sie Langzeithausfrau mit großem Hang zum Perfektionismus. Ihr Garten sieht aus wie das Vorzeigeprojekt eines Landschaftsgestalters, ihr Haus ist jederzeit absolut aufgeräumt bis zur letzten, nur scheinbar wie zufällig (tatsächlich mit Hingab ausgerichteten) herumliegenden Zeitung.
Als ich die Frau des Hauses einmal voller Bewunderung ansprach, entgegnete sie lachend, sie sei schon viel weniger pingelig - früher wäre sie Besuchern mit Lappen hinterhergelaufen, um Fingerabdrücke zu beseitigen...

Nun waren Paul und ich eingeladen, um den Nachmittag mit der Nachbarin und ihren beiden Enkelinnen zu verbringen (die ich im Übrigen noch nie nackig oder dreckig erlebt habe - ist das genetisch?)
Wie immer habe ich mir größte Mühe gegeben, ohne Fußabdrücke zu hinterlassen über die dicken Teppiche zu wandeln, nichts anzufassen, nicht zuviel von der gerade dezent genug bedufteten Luft einzuatmen und überhaupt möglichst keine Spuren meiner physikalischen Existenz in ihrem Haus zu verbreiten- als sie mir ein Glas mit Wasser und Eiswürfeln brachte.
Ich ging damit nach draußen und das Unheil nahm seinen Lauf: Paul kippe mein Glas um.
Immerhin auf den Rasen, aber dennoch: Um ein neues Getränk zu bitten kam mir angesichts der mich umgebenden Perfektion so stümperhaft vor, dass ich, so gut es ging, einen Teil der dreckigen Eiswürfel wieder einsammelte und den Rest verstecken wollte - doch wo? Im hinteren Teil des Gartens lag eine kleine Kindergießkanne aus Plastik. Das perfekte Versteck.
Dann rutschte Paul aus, verletzte sich blutig am Knie und ich war lange genug abgelenkt, um der Nachbarin Zeit zu geben, mein Glas mit den dreckigen Eiswürfeln zu finden. Sie trug es ohne Kommentar weg und brachte mir ein neues mit einem leicht irritierten Lächeln und den Worten "Hier hast du ein frisches."

Und dann - dann sagte ihre Enkeltochter "Oma, bring mir die Gießkanne!"
Der Boden tue sich bitte unter mir auf. Oma geht durch den Garten, hebt die Gießkanne hoch und sieht, was unser Nachbarschaftsverhältnis nun einschlafen lassen wird: Die Deutsche hat, am Ende des Gartens, unter der Plastikgießkanne der Kinder, Eiswürfel versteckt.
Der darauf folgende, an mich gerichtete Blick ist mit Worten nicht beschreibbar.

Ich wünsche euch ein allzeit reges Nachbarschaftsleben!
Liebe Grüße,

2 Kommentare:

  1. Ich stelle mir vor, welchen Text eure Nachbarin in ihr Blog "My recent adventures with German neighbours" stellt ...
    ;-) nice!
    Coco

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  2. Ich finde ein Eiswürfelversteck unter der Gießkane toll! O.L.

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