Samstag, 26. Juli 2014

Die Evolution der Gutenacht-Geschichte

Als Paul erst ein paar Wochen alt war, nahmen wir ihn mit zu unserem Chor. Was sein Schlaflied waere, wollte man dort wissen, dann koennte es auf dem Fluegel fuer ihn gespielt werden. Er habe keins, antworteten wir, und bekamen allseits entsetzte Blicke, die zeigten, dass es an Vernachlaessigung grenzte, keine kulturelle Untermalung des Einschlafens zu leisten.


Bis vor etwa einem Jahr gab es fuer unser Kind keine Gutenacht-Geschichte. Paul hatte einfach nie danach gefragt, und da wir nicht das Gefuehl hatten, dass er zu wenig Zuwendung, zu wenige Geschichten oder zu wenig Zeit mit uns bekam, boten wir sie nicht an.

Irgendwie aenderte sich das. Wie auch bei anderen Evolutionen weiss niemand mehr genau wann, warum und wie. Auf einmal war die Gutenacht-Geschichte da, sie war kurz, schmerzlos und nett.
Und sie war, das, was man eben so macht, ne?
Meistens wollte Paul eine von uns erfundene Caillou-Geschichte (das ist quasi die maennliche Heidi des 21. Jahrhunderts), die am besten genauso seicht und inhaltslos sein sollte wie das Original.
Kein Problem, machten wir gerne.

Ganz schleichend, und wieder ist nicht ganz klar, warum und durch wen, kam eine zweite Geschichte dazu. In einem letzten kleinen Erziehungstriumph konnten wir durchsetzen, dass die zweite kuerzer sein sollte als die erste.
Ab nun gab es also die Lange und die Kurze.

Wir erzaehlten froehlich lange und kurze Geschichten, deren Inhalt sich von Woche zu Woche aenderte. Neben Superhelden, Astronauten und Mickey Mouse gab es eine besonders bizarre Phase, in der Paul verlangte, dass ich die Erlebnisse seines Tages exakt nacherzaehle, allerdings mit Caillou in der Hauptrolle. Dabei freute er sich zuweilen diebisch, wenn Caillou-Paul hinfiel oder kein Eis erlaubt bekam - Schadenfreude mal andersrum?

Eines Tages wollte er gerne mit Christian bei der Langen auf dem Bett kaempfen. Klar, warum nicht. Bei der Kurzen dann auch. Ja, in Ordnung.

Das Kaempfen wurde im Laufe der Zeit zu "Aktivitaet xy". Ob er als Lange mit uns auf der Treppe Ball spielen koenne? Und als Kurze dann ein kleines Buch vorgelesen bekommt? Ja, das ging wohl auch.
Als Lange noch eine Runde Laufrad fahren? Als Kurze noch schnell weiter in der Garage bauen?

Unser Kind fuehrte ein erstaunlich praezises und erfolgreiches Verhaltenstraining mit uns durch.
Wir merkten das, und laengere Ueberlegungen fuehrten uns an die philosophischen und logischen Grenzen der Gutenacht-Geschichten-Definition: Wann ist eine Geschichte ueberhaupt eine Geschichte? Ist eine Geschichte keine Geschichte mehr, wenn man nebenbei Ball spielt? Ist lang und kurz nicht nur eine Frage der relativen, statt der absoluten Dauer? Wieso um Himmels Willen ist es gesellschaftlicher Standard, seinem Kind eine Gutenacht-Geschichte zu bieten?
Heisst es eigentlich Gute-Nachtgeschichte (mit Augenmerk auf einem guten Gefuehl) oder Gute-Nacht-Geschichte (mit Betonung auf die spaete Stunde) oder Gute-Nacht-Geschichte?

Eine gute Nacht hatten wir Eltern schon lange nicht mehr, eher einen endlosen Kinderunterhaltungsabend.
Eines Abends war Paul um 22.15 Uhr endlich eingeschlafen, nachdem die Lange ein 45-minuetiges Frisbee-Spiel im Garten und die Kurze das Vorlesen zweier Buecher gewesen war, und ich entschied, dass es nach zu viel Aufwand klang, nochmal aufzustehen, um mich selbst zu unterhalten.



Erschoepft schlief ich ein, und dachte, dass es eigentlich voellig in Ordnung waere, wenn mich andere fuer eine nicht-singende, nicht-erzaehlende, vernachlaessigende Rabenmutter halten.

1 Kommentar:

  1. Hihi, ich erinnere mich ... Den Evolutionsvergleich finde ich witzig - trifft vermutlich auch auf so manche schleichende Änderung im Alltagsleben zu. Lauter winzig kleine Schritte, und plötzlich ist da was Neues.
    Coco

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